In Memoriam Alice Ricciardi-von Platen
Am 28.04.2010 gedachte die Nürnberger IPPNW-Regionalgruppe in einer feierlichen Soirée ihres Ehrenmitglieds, der Psychiaterin und Psychoanalytikerin Dr. med. Alice Ricciardi-von Platen, die an diesem Tag vor 100 Jahren in Weißenhaus in Holstein geboren worden war. Im Alter von 97 Jahren war sie am 23.02.2008 in Cortona, ihrem toskanischen Wohnsitz gestorben.
Unsere Kenntnisse über den Horror der Nazi-Medizin verdanken wir zu einem erheblichen Teil ihrem mutigen Wirken.
Unsere Gruppe hatte ins Nürnberger Grand Hotel eingeladen, wo Freud, Jung und Adler vor 100 Jahren die internationale psychoanalytische Vereinigung gegründet hatten und wo die amerikanischen Richter und Ankläger der Nürnberger Prozesse untergebracht waren.
Horst Seithe führte durch das Programm. Helmut Sörgel skizzierte das Leben von Alice Platen und Klaus Dörner, der für die Aufarbeitung der NS-Psychiatrie legendäre Sozialpsychiater, berichtete über seine Zusammenarbeit mit ihr, über ihr Buch und über die epochale Bedeutung des Nürnberger Ärzteprozesses. Dabei ergaben sich klare Konturen eines Gesamtbildes, das im Folgenden dargestellt werden soll.
Alice Platen machte ihre eigenen leidvollen Erfahrungen mit der NS-Medizin in ihrer Assistentenzeit, als Sterilisationen aus „eugenischen Gründen“ den Klinikalltag bestimmten.Als Landärztin musste sie miterleben, dass behinderte Angehörige ihrer Patienten in Tötungsan- stalten gebracht und vergast wurden. In der Nachkriegszeit von dem Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker ausgebildet, beobachtete sie 1946/47 in der Gruppe von Alexander Mitscherlich den Ärzteprozess in Nürnberg, wobei ihr Hauptaugenmerk auf den Euthanasieverbrechen lag.
Im Juli 1948 konnte Frau Platen mit tatkräftiger Unterstützung von Eugen Kogon im Verlag der Frankfurter Hefte die erste geschlossene Darstellung der Euthanasie-Verbrechen vorlegen, unter dem Titel „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“, ein epochemachendes Werk einer mutigen Aufklärerin.
Ihr Buch widmet sie den geschundenen, psychisch kranken und behinderten Menschen. In bewegenden Passagen versucht sie, den Ermordeten ihre Würde wieder zurück zu geben. Beim Lesen erschüttert immer wieder der Befund, dass die Hilflosesten und die Schwächsten der Gesellschaft in furchtbarer Weise von denen verraten wurden, die sich speziell zu ihrer Hilfe ausgebildet und verpflichtet hatten. Eine zentrale Aussage ihres Buches ist, dass die „Freigabe“ auch nur eines Menschen an den „Gnadentod“ alle Grenzen sprengt und „das Verhältnis zwischen Arzt und Kranken auf der ganzen Welt in Frage stellt“.
Die heutige Lektüre des Buches zeigt, dass fast alle grundlegenden Gedanken zur Erklärung, soweit das überhaupt möglich ist, der psychiatrischen NS-Verbrechen schon 1948 gedacht und ausgesprochen waren. So beschreibt die Autorin mit einer unglaublichen Sensibilität und Disziplin des Denkens schon 1948 die wichtige Täter-Fraktion der „Idealisten“, die aus einem Gemisch aus revolutionärer Begeisterung, die Gesellschaft heilen zu können, und „tödlichem Mitleid“ gehandelt und gemordet haben. Sie beschreibt den „biologischen Utilitarismus“, als ob ihr die heutige bioethische Debatte schon geläufig wäre. Indem sie die psychiatrischen Morde der Nazis als Versuch der Lösung eines „sozialen Problems“ erkennt, stellt sie schon damals die heute diskutierte Hypothese auf, ob nicht eine der Hauptabsichten der Nazis die „Endlösung der sozialen Frage“ gewesen sein könnte.
Sie beginnt die schwierige Mitleids-Diskussion, die erst heute breiter entfaltet wird und weist darauf hin, dass in Deutschland auf Grund der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der Staat eine viel autoritärere Verfügungsgewalt gegenüber kranken Menschen als in anderen Ländern hat, ihnen Schutz gewähren, aber eben auch versagen kann.
Auch fällt ihr schon damals der uns manchmal zur Verzweiflung treibende Zusammenhang auf, dass gerade an der Therapie besonders interessierte Psychiater wie Carl Schneider, Werner Heyde und Paul Nitsche die Chef-Organisatoren der Ermordung ihrer Patienten waren.
Wie die neuere Forschung belegt, ist es das bleibende Verdienst von Alice Platen, dass sie die Patientenmorde im Rahmen der Euthanasie als das zentrale Verbrechen der deutschen Medizin ans Tageslicht gebracht hat. Zwischenzeitlich hat sich ja herausgestellt, dass das Euthanasieprogramm weniger ein Naziprogramm und wesentlich mehr ein Programm der Mediziner, der Psychiater und insbesondere der psychiatrischen Ordinarien-Elite war.
Die Gesamtzahl der Opfer der verschiedenen Euthanasieaktionen, einschließlich der Opfer in polnischen, sowjetischen und französischen Anstalten, musste in den letzten Jahren stetig nach oben korrigiert werden. Heute geht man davon aus, dass 300 000 Patienten ermordet wurden – eine schier unfassbare Zahl. Überdies weiß man heute, dass mit der NS-Euthanasie eine perfekte Liquidierungsmaschinerie zur Verfügung stand, die ein Katalysator war für den Holocaust in den Vernichtungslagern.
Das Schicksal des Buches von Frau Platen war rasch besiegelt. Die 3000 Exemplare wurden ignoriert, sabotiert und eingestampft. Einige wenige Exemplare überdauerten. Dennoch blieb dieses Buch über zwei Jahrzehnte hinweg die einzige und unübertroffene Gesamtdarstellung im deutschen Sprachraum. Die Autorin selbst geriet sofort in Vergessenheit. Sie machte in London eine psychoanalytische und gruppenpsychotherapeutische Ausbildung, heiratete den Neapolitaner Augusto Ricciardi und ließ sich 1967 endgültig in Rom nieder, wo sie das menschlich und politisch tolerante Klima schätzte: „Eine Euthanasie hätte es in Italien nie gegeben“. Sie wurde eine berühmte Gruppenanalytikerin.
Klaus Dörner war glücklich, als er 1990 die längst tot geglaubte Alice von Platen entdeckte, deren legendäres Buch nur wenigen Eingeweihten bekannt war, das er dann 1993 in einem Reprint im Psychiatrieverlag neu herausbrachte.
Ihm haben wir Nürnberger es zu verdanken, dass wir sie 1996 zur Präsidentin unseres IPPNW-Kongresses „Medizin und Gewissen. 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess“ machen konnten. Wir waren von der damals 86-jährigen tief beeindruckt, von ihrem wachen, charmanten Geist, von ihrer Vitalität, von ihrem minutiösen Gedächtnis und ihrem politischen Genius. Sie berichtete uns präzise und höchst detailliert vom Ärzteprozess, von der Entstehung ihres Buches und von ihren Gedanken um den Euthanasiekomplex. Seit diesem Nürnberger Kongress erlebte Frau Ricciardi-von Platen mit ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte in ganz Europa eine Renaissance. Ihr Buch erscheint bereits in der 7. Auflage, jetzt im Mabuse-Verlag. Eine italienische und eine spanische Ausgabe liegen vor. Zwischen ihr und unserer Gruppe hatte sich in den letzten 12 Jahren ihres Lebens eine wunderbare Freundschaft entwickelt.
Klaus Dörner machte in seinem Vortrag noch auf eine äußerst bedeutsame Besonderheit des Nürnberger Ärzteprozesses aufmerksam. Die amerikanischen Richter und Ankläger stellten damals entsetzt fest, dass es auf der ganzen Welt kein einziges ärztliches Dokument gibt, das den Ärzten Grenzen aufzeigt, was sie eigentlich dürfen und was nicht. Sie erkannten, dass es die Schuld der weltweiten Ärztegemeinschaft war, dass den Allmachtsphantasien der modernen Medizin keine Grenzen gesetzt worden waren. Sie formulierten ersatzweise Normen, von denen sie als Juristen meinten, dass eigentlich Ärzte sie einzuhalten hätten, wohlwissend, dass sie juristisch etwas völlig Verbotenes tun, also: Ärzte anklagen und verurteilen auf Grund von Normen, die erst nachträglich von den Richtern gesetzt wurden.
An der Spitze dieser Normen, dieses „Nürnberger Kodex“, steht die berühmte Formel des „Informed Consent“, die frei übersetzt heißt: „Mit niemand kann etwas medizinisches gemacht werden, egal ob diagnostisch, therapeutisch oder forschungsmäßig, wenn nicht nachgewiesen und schriftlich dokumentiert ist, dass der Betreffende vollständig und auch so, dass er es verstanden hat, aufgeklärt worden ist und nach dieser Aufklärung dem zustimmt“.
Damit wurde ein fundamentales, universal geltendes Menschenrecht in der Medizin in alttestamentarischer Radikalität formuliert. An dieser Norm haben sich in der Zwischenzeit viele gerieben. Aber alle müssen sich an dieser Messlatte messen lassen, die uns diese amerikanischen Richter vorgehalten haben.
Am 21.11.2010 wird das Museum „Memorium Nürnberger Prozesse“ im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes eröffnet. Wir sind froh, dass dort der Nürnberger Kodex und die Wirkungsgeschichte von Alice Ricciardi-von Platen einen Platz bekommen und somit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden
DR. HELMUT SÖRGEL
Nervenarzt und Psychotherapeut
IPPNW Regionalgruppe Nürnberg