Aus der Nürnberger Presse

Rückblick auf die Nürnberger Ärzte-Prozesse vor 60 Jahren

NÜRNBERG, 21.10.2006 - Die Menschenversuche in den Konzentrationslagern und die Tötung Geis-teskranker durch Nazi-Ärzte: „Diese Themen bleiben der Medizin für immer“, sagt Stephan Kolb vom Klinikum Nürnberg. Und deshalb hat die „Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ 60 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen wieder einen Kongress organisiert, der sich mit »Medizin und Gewissen« beschäftigt.

Schilderungen von Zeitzeugen
Ob sie den Nürnberger Ärzteprozess vor 60 Jahren als Dolmetscher, Mitarbeiter der Anklage oder Beob-achter erlebten, eines haben die Zeitzeugen gemeinsam: das maßlose Erschrecken darüber, wozu Men-schen fähig sind; Mediziner zumal, die heilen statt töten sollen und während der Nazi-Diktatur doch das Gegenteil taten. Arno Hamburger, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, der damals Dokumente und Aussagen übersetzte, sagte, dieses Erleben habe ihn bis zum heutigen Tag geprägt. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben«, betonte er im voll besetzten Historischen Rathaussaal. Und noch eines habe ihn nachhaltig bewegt: die Gleichgültigkeit, mit der die 23 angeklagten Ärzte die Verlesung der Dokumente über ihre Gräueltaten verfolgten.

Auf Rache verzichtet
So sieht es auch Hedy Epstein, die im Ärzteprozess für die Anklage arbeitete und die Nürnberger Schülern ihre Erlebnisse schilderte. Sie stellte selbst die Frage, weshalb der Widerstand gegen die barbarischen Menschenversuche so gering gewesen sei, obwohl doch »jeder Arzt mehr Möglichkeiten hatte, unmenschliche Forderungen zurückzuweisen«. In dem Ärzteprozess von 1946, sagt sie, sei auf Rache verzichtet worden. Experimente an Menschen hätten aber auch nach dem Krieg nicht aufgehört, auch in ihrem Heimatland USA nicht. Auf eine andere Variante medizinischer Verbrechen machte Alice Ricciardi von Platen aufmerksam: die Tötung Geisteskranker. Die Psychoanalytikerin gehörte zu dem von ihrem Kollegen Alexander Mitscherlich geführten dreiköpfigen Team, das für die Deutsche Ärztekammer den Nürnberger Prozess beobachtete - und dafür aus den eigenen Reihen der »Nestbeschmutzung« beschuldigt wurde. Die Kammer habe wohl gedacht, sie könne die Medizinerschaft mit dem Argument, man habe nichts gewusst, reinwaschen. »Doch jeder Arzt hätte wissen müssen, was mit geisteskranken Patienten geschah, die plötzlich verschwanden.« Die Medizinerin war die Erste, die das Euthanasie-Programm der Nazis systematisch aufarbeitete. Ihr 1949 erschienenes Buch verschwand damals zwar bald in den Schubladen, ist aber inzwischen in einem Reprint der Originalausgabe wieder erschienen (Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Mabuse-Verlag 2005).

Geänderte Ethik
Das dokumentiert zugleich einen Wandel im Denken: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Euthanasie, mit der Ermordung von menschenverachtend »lebensunwert« genannten Lebens, hatte nach dem Krieg kurz Konjunktur, um dann lange Zeit totgeschwiegen zu werden. Das ist inzwischen wieder vorbei, der Forschungszweig erlebe einen Aufschwung, konstatierte der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl. Geändert hat sich auch die Ethik. Vor allem in der Pflege sieht Medizin-Professor Paul Weindling, Oxford Brookes University, einen Wandel, der schon unmittelbar nach dem Krieg eingesetzt habe, unter dem Eindruck der Opfer von Euthanasie, Folter und Menschenversuchen, die das Grauen der KZ überlebten, aber oft schon dem Tod geweiht waren. Dabei habe man wertvolle Erfahrungen mit der Pflege Behinderter und Schwerstkranker gemacht, die sehr viel Zuwendung brauchten und erhielten. Aber auch im Nürnberger Kodex mit scharfen Verurteilungen von Versuchen an Menschen, der nach dem Ärzteprozess 1947 formuliert - und 50 Jahre später auf dem ersten Nürnberger Kongress »Medizin und Gewissen« aktualisiert - wurde, sieht Weindling einen wertvollen Beitrag für ein geändertes Denken, hin zu einer »heilenden Gemeinschaft«. Ganz auf der sicheren Seite sei man aber nicht: Solange es Versuche gebe, den Wert des Menschen zu relativieren, bestehe die Gefahr, dass sich Untaten wie die der NS-Zeit wiederholten.

Anders und fremd
Auch Alice Ricciardi von Platen sieht diese Gefahren. Etwa, wenn Menschen abgelehnt oder ausgestoßen würden, nur weil sie anders oder fremd seien. So etwas geschehe leicht auch mit Behinderten oder psychisch Kranken. Schon in ihrem ersten Buch über die Euthanasie hatte sie eine Anschauung dagegengesetzt, die auch heute noch gültig ist: »Solange Menschen leben, wird nur ein Teil von ihnen der Norm des Durchschnittsmenschen entsprechen. Doch wäre das Leben farblos und wir arm an Kenntnissen und Wissen über den Menschen und sein Sein, wenn wir zuließen, dass die ,Abnormen' kurzerhand beseitigt werden.« Sie schloss mit dem Appell: »Helft, den Ausgeschlossenen eine neue Heimat zu geben.«

Berichterstattung von Herbert Fuehr und Dieter Schwab

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