Zusammenfassung der Pressenberichte

NÜRNBERG, 23.10.2006 - Zu dem Kongress der deutschen Sektion der »Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs / Ärzte in sozialer Verantwortung« (IPPNW) waren rund 1000 Teilnehmer nach Nürnberg gekommen. Im Mittelpunkt standen die Aufarbeitung der Nürnberger Ärzteprozesse vor 60 Jahren und aktuelle gesundheitspolitische und medizinethische Fragen. Die Eröffnung übernahm der 83-jährige Gießener Professor und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, der die »Ärzte gegen den Atomkrieg« in Deutschland mitbegründet hat und deren Ehrenvorstand er ist.

Wie viel Markt ist noch gesund?
Der Kongress war zu einer wichtigen politischen Zeitaussage geworden. Beinahe prophetisch klang das Motto der zentralen politischen Podiumsdiskussion: »Ein gerechtes und solidarisches Gesundheitssystem ist möglich - es muss nur auch politisch gewollt sein.« Nach dem Kongress begannen in Berlin die entscheidende Wochen in der Debatte um die Gesundheitsreform. Die Mediziner hatten in Berlin bei einem außerordentlichen Ärztetag gegen diese Reform protestiert. Professor Gerd Glaesken, Mitglied im Sachverständigenrat und Arzneimittelforscher, sprach sich bei der Eröffnung vehement für die Stärkung des solidarischen Gesundheitssystems und gegen eine Privatisierung des Gesundheitsrisikos aus. Genau dies leiste aber die geplante Gesundheitsreform nicht: Sie belaste sozial schwache und chronisch kranke Menschen und verfestige bestehende Ungerechtigkeiten. Stephan Kolb, der die Veranstaltung für die PPNW organisiert hat, warnte davor, das Gesundheitssystem durch die zunehmende Ökonomisierung zu einer »x-beliebigen« Branche verkommen zu lassen. Die fatale Grundtendenz, dass die Gesundheitsreform von 2006 weniger statt mehr Solidarität mit den Kranken bringen wird, bleibt bestehen. »Eine kluge Politik«, so Ellis Huber, langjähriger Präsident der Berliner Ärztekammer, »hätte das reformbereite Potenzial des Systems eingebunden.« Denn engagierte, dem Gemeinwohl verpflichtete Kräfte gibt es genügend. Bis zu 30 Prozent der Gesundheitskosten ließen sich einsparen, wenn man mehr auf Vertrauen und Kooperation der Ärzte bei der Kostensenkung setzen würde.

Mehr oder weniger Staat?
Kaum ein Teilnehmer wollte auf den Staat verzichten - gerade in Zeiten, in denen ein Mehr an Wettbe-werb und Markt alle Probleme lösen soll. »Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem der Staat die letztendliche Verantwortung für das kostbare Gut Gesundheit hat«, gibt auch Professor Rolf Rosenbrock vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung zu. Dabei müsse es auch bleiben, assistiert ihm Ursula Stüwe, Präsidentin der hessischen Landesärztekammer, und warnt vor einem völlig deregulierten Gesundheitsmarkt: »Patienten haben sich ihre Krankheit nicht ausgesucht, und deshalb ist Wettbewerb für sie nicht zumutbar.« Markt und Wettbewerb seien daher eben keine Allheilmittel für das kränkelnde Gesundheitssystem, schlussfolgert das Mitglied im Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen, Professor Gerd Glaeske: »Der Markt sorgt hier nicht für Effizienz, er versagt.« Rolf Rosenbrock, Professor für Medizin an der Technischen Universität Berlin, weist auf das Beispiel der private Krankenversicherungen hin, die sich ihre Versicherten nach guten Risiken aussuchen dürften - »was in der gesetzlichen Krankenversicherung explizit verboten ist«. Für Prof. Rosenbrock lautet daher die gesundheitspolitische Maxime: die gesetzliche Krankenversicherung ausbauen und alle Bürger einschließen (Bürgerversicherung). Solidarität und Solidarausgleich seien in der Gesellschaft hoch eingeschätzte Güter. Wer sie destabilisiere, »gefährdet sehr viel mehr, nämlich die Ressourcen des gesellschaftlichen Zusammenhalts«.

Debatte um ärztliche Verantwortung und Ethik
Die neue Medizin-Ethik ist auch eine Lehre aus der NS-Zeit. Für sie stehen Selbstbestimmung und Ei-genverantwortlichkeit der Patienten im Mittelpunkt. Ethik, so der Theologe Rainer Anselm und die Ethikerin Claudia Wiesemann, die beide an der Uni Göttingen lehren, sei kein Handeln, sondern ein Handlungsrahmen, der keine festen moralischen Prinzipien aufstelle, sondern im Dialog entwickelt werde. Frau Prof. Wiesemann nannte als einfaches Beispiel den Plan, Patienten, die nicht zu Vorsorgeuntersuchungen gingen, mit höheren Zuzahlungen zu bestrafen. Prof. Horst-Eberhard Richter hatte schon bei seiner Eröffnungsrede die Gelegenheit genutzt, seinen Kollegen in der aktuellen Debatte um Ethik und Verantwortung ins Gewissen zu reden. Ärztliches Gewissen, sagte er beim Festakt im Nürnberger Opernhaus, habe mit Handeln zu tun. Daran werde der Mediziner gemessen. Er müsse sich gegen Zwänge der Kommerzialisierung wehren, die ihn von seinen Patienten entfremden. »Wir dürfen uns von unserer Verantwortung nicht abbringen lassen.« Dieser Satz war genau auf den Kongress »Medizin und Gewissen« gemünzt: auf dessen Auseinandersetzung mit den - historischen und aktuellen - Bedingungen ärztlichen Handelns sowie den korrumpierenden Einflüssen, denen es ausgesetzt ist.

Berichterstattung von Armin Jelinek und Herbert Fuehr

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