Pressekonferenz IPPNW, 16. Mai 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

unsere IPPNW – Regionalgruppe begrüßt es sehr, dass Nürnberg die Delegierten und Gremien des 115. Deutschen Ärztetages nach 33 Jahren wieder in seinen Mauern begrüßen kann (22. – 25. 05. 2012). Hoffnungsvoll blicken wir auf den neuen Präsidenten, Herrn Dr. Frank Ulrich Montgomery (Marburger Bund, SPD-Mitglied), den wir als kämpferischer Redner beim letzten Streik der Krankenhausärzte hier am Kornmarkt erleben konnten. Alle Delegierten, den Vorstand und ihn heißen wir herzlich in unserer Stadt willkommen.

Nürnberg bleibt für die deutsche Ärzteschaft ein besonderer Ort. In dieser Stadt wurden führende Mitglieder der deutschen Ärzteschaft für ihre Beteiligung an medizinischen Verbrechen in der dunklen Nazizeit vom 1. Amerikanischen Militärtribunal zur Rechenschaft gezogen. Aus dem urteilenden Blick zurück entwickelten die Richter mit dem Nürnberger Code von 1947 ein wegweisendes medizinethisches Dokument für die Zukunft der Medizin, dessen Strahlkraft bis in die Gegenwart reicht. Welcher Ort könnte besser geeignet sein, die schuldhafte Verstrickung der deutschen Ärzteschaft ins nationalsozialistische Unrechtssystem zu reflektieren, sich offiziell zur aufgeladenen Schuld zu äußern und die Opfer um Verzeihung zu bitten.

Aber schon damals 1947 / 48 wurden die in Büchern publizierten Prozessergebnisse - es sei hier an Alexander Mitscherlich, Fred Milke und Alice Ricciardi / von Platen-Hallermund erinnert- von der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärzteverbände dem Publikum aktiv vorenthalten oder sie stießen auf das Desinteresse der deutschen Ärzte.

1987 hatte der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Karsten Vilmar, in einem weltweit kritisierten Interview im Deutschen Ärzteblatt eine Kollektivschuld der deutschen Ärzteschaft als Diffamierung zurückgewiesen. Daraufhin konnte immerhin erreicht werden, dass die Redaktion in zahlreichen Übersichtsartikeln namhafter Fachgelehrter die historische Realität darstellte. Nur 2 Jahre später, 1989, formulierte Prof. Richard Toellner, der Nestor der deutschen Medizingeschichte, vor dem 92. Deutschen Ärztetag in Berlin : „Die Ärzte im Dritten Reich haben uns eine schwere Last hinterlassen. Erinnern wir uns dieser Last. Lernen wir sie kennen, wirklich kennen. Anerkennen wir diese Last und lassen sie uns eine Lehre sein. Versuchen wir nicht, diese Last abzuschütteln, denn mit der Last geht die Lehre verloren. Nehmen wir sie auf uns. Die Last ist die Lehre“.

Was ist aus diesem Appell an die versammelten Vertreter der deutschen Ärzteschaft entstanden? Damals saßen mit Prof. Wilhelm Heim, ehem. Präsident der Berliner Ärztekammer und Träger der Paracelsus Medaille, und Prof. Hans Joachim Sewering, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, zwei Verstrickte in die NS-Medizin noch in der ersten Reihe und applaudierten, was beim Redner ein beklemmendes Gefühl hinterließ. Wen wundert es, dass damals nichts weiter geschah, obwohl bereits aufrüttelnde Forschungsergebnisse publiziert waren.

Der verstorbene Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Jörg Dieter Hoppe, hatte später mehrmals ein offizielles Bekenntnis angekündigt. Leider ist es dazu immer noch nicht gekommen. Mit dem neuen Präsidenten Montgomery kann und muss sich die deutsche Ärzteschaft nun im 2- Generationenabstand endlich offiziell äußern und diese Last auf- und annehmen. Einzelne medizinische und wissenschaftliche Fachverbände oder vor vielen Jahren bereits die Evangelische Kirche haben dies in anerkennenswerterWeise vorgelebt.

Unsere Regionalgruppe kann neben vielen anderen vielleicht als kleines Vorbild dienen, wie verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Berufsgeschichte gestaltet werden kann. Wir haben uns aktiv und hartnäckig mit der Vergangenheit unseres Berufsstandes auseinander gesetzt. Erinnern möchte ich z. B. an die internationalen Kongresse „Medizin und Gewissen“ 1996 und 2001 in Nürnberg und Erlangen, die Namensgebung der Prof. Ernst Nathan Straße am Klinikum Nord 1998, die Errichtung der Gedenkstelen an die Nürnberger Rassegesetze 2006 oder an unsere Mitarbeit bei der Ausstellung „Fegt alle hinweg“ 2009. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bei der Stadt Nürnberg, Herrn Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly und dem Ärztlichen Kreisverband Nürnberg, die uns dabei stets unterstützt haben.

Was wir im Kleinen geleistet haben, sollte im Großen unsere Standesvertretung endlich aufgreifen und auf den Weg bringen. Ansätze dazu sind bereits erkennbar. In einem Brief an den Präsidenten der Bundesärztekammer hatte unser Vorsitzender, Prof. Hannes Wandt, den Eintritt in einen ergebnisorientierten Diskussionsprozess angemahnt. Anerkennenswert ist, dass sich die Person Frank Ulrich Montgomery der historischen Verantwortung durchaus bewusst ist. Leider enthält sein Antwortschreiben vom 14. Mai 2012 noch keinen Hinweis auf eine offizielle Erklärung des Deutschen Ärztetages.

Werter Herr Montgomery und liebe Kollegen Delegierte, die Zeit ist gekommen für ein mutiges Bekenntnis. Handeln Sie jetzt ! Verabschieden sie hier in Nürnberg die Nürnberger Erklärung 2012. Noch leben Opfer des damaligen Unrechts. Noch ist das Zeitfenster für eine aufrichtige Auseinandersetzung offen. Wir, die Enkelgeneration, müssen das schaffen und diese Last als Lehre für die Zukunft annehmen !

Dr. med. Horst Seithe

Antrag und Text der Nürnberger Erklärung 2012: Appell_Deutscher_Aerztetag_2012.pdf