Medizin, Macht und Moral
5. Internationaler IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“,
14. und 15. Oktober 2016
"Was braucht der Mensch?"
70 Jahre nach Beginn des Nürnberger Ärzteprozesses, aktuellen Diskussionen um die Sterbehilfe und die filmische Aufarbeitung der Euthanasie im Nationalsozialismus kam der 5. Internationale IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen – Was braucht der Mensch?“ zum richtigen Zeitpunkt. 400 TeilnehmerInnen und 40 ReferentInnen beschäftigten sich in Nürnberg mit der Rolle von ÄrztInnen und insbesondere Psychiatern im Nationalsozialismus, ethischen Fragen im Medizinalltag und der Rolle von Menschen im Gesundheitswesen als Friedensstifter.
Prof. Dr. Volker Roelcke, Professor für Geschichte und Medizin, kritisierte in seinem Vortrag bezüglich des Umgangs der deutschen Ärzteschaft mit den Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus, dass eine kritische Bestandsaufnahme des Geschehenen, eine systematische Analyse der Voraussetzungen für die Bereitschaft zur Beteiligung an den Unrechtstaten und eine Bitte um Entschuldigung gegenüber Repräsentanten der Opfergruppen von Seiten der verfassten Ärzteschaft bis heute nur zögerlich und unter dem Druck von außen stattgefunden habe. Michael von Cranach, einer der wichtigsten Experten zum Thema Euthanasie im Nationalsozialismus, hält psychisch Kranke auch heute noch für besonders gefährdet. In Kriegen seien sie oft die ersten Opfer.
Ein weiterer Themenstrang beschäftigte sich mit der Rolle des Roten Kreuzes im Nationalsozialismus und seiner engen Verwobenheit mit Macht und Militär. „Wiewohl in der Zeit des Nationalsozialismus der äußere Schein staatlicher Unabhängigkeit aufrechterhalten werden sollte, war das Deutsche Rote Kreuz de facto institutionell und ideologisch in den Herrschaftsapparat des NS-Regimes eingebunden“, erklärte Dr. Judith Hahn, Historikerin des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin. „Die Ereignisse der Vergangenheit gewinnen angesichts der aktuellen politischen Entwicklung und des neuen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr weiter an Brisanz“, erklärt Elisabeth Wentzlaff von der IPPNW-Regionalgruppe Nürnberg.
Ein weiterer Themenblock beschäftigte sich mit der „Korruption im ärztlichen Alltag“. Prof. Dr. Thomas Kühlein, Lehrstuhlinhaber für Allgemeinmedizin an der Universität Erlangen, thematisierte die Bereitschaft von ÄrztInnen, auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, die eher dem eigenen finanziellen Interesse dienten als dem Wohl des Patienten. Die Bioethikerin Erika Feyerabend wies bei der Diskussion über die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin darauf hin, dass der Fortschritt der Medizin schnell zum Rückschritt für die Frauen in der Gesellschaft werden könne. So bestehe z. B. die Gefahr, dass Social Freezing propagiert werde anstatt für gesetzliche Verbesserungen der Stellung junger Frauen in der Arbeitswelt zu streiten.
Auch Freihandels- und Investitionsschutzabkommen wie TTIP oder CETA waren Thema beim Kongress. Sie haben weitgehende Auswirkungen auch auf das Gesundheitswesen bei uns und weltweit und sind ein Katalysator, um renditeträchtige Investitionen im Gesundheitswesen und damit die Privatisierung voranzutreiben. Soziale Sicherungssysteme sind noch gefährdeter als bisher schon. Jörg Schaber (BUKO Pharma-Kampagne) befürchtet, dass die Pharmaindustrie weltweit noch ungehinderter Profite machen kann und die Sicherheit bei der Neuzulassung von Medikamenten weiter zurückgehen werde.
Die IPPNW-Kongressreihe „Medizin und Gewissen“ begann im Jahr 1996.
Der diesjährige Kongress reihte sich ein in die Tradition bereits erfolgreicher Kongresse in den Jahren 1996,
2001,
2006
und 2011 ein.
Weitere Informationen über den Kongress finden Sie unter www.medizinundgewissen.de
Prof. Hannes Wandt, IPPNW Nürnberg